ZEITREISE IN MEILENSTEINEN
2018
Endlich verstanden
2018 wurde die Abteilung für hörgeschädigte Menschen 30 Jahre alt
Ich habe mich zum ersten Mal verstanden gefühlt. Ein einfacher Satz – und doch ein Wendepunkt. Immer dann, wenn er gebärdet wird. Denn dieser Satz markiert den Moment, in dem eine Patientin oder ein Patient nach einer langen psychiatrischen Odyssee in die Abteilung für hörgeschädigte Menschen im Klinikum am Europakanal Erlangen kommt.
Vielleicht fiel dieser Satz schon 1988, als die Abteilung ihre Arbeit aufnahm. Vielleicht 2018, zum 30-jährigen Bestehen. Oder heute. Denn die Fachkräfte dort hören – oder vielmehr sehen – diesen Satz immer wieder. Er bedeutet:
„Ihr sprecht meine Sprache, die Gebärdensprache. Keine Missverständnisse, keine Dolmetscher, kein Umweg. Ein Gespräch auf Augenhöhe.“
Ein Gespräch, das Vertrauen schafft – oft zum ersten Mal.
Eine mutige Pionierin
Dass solche Gespräche möglich sind, ist Dr. Inge Richter zu verdanken. Seit ihrer frühen Kindheit gehörlos, gründete die Ärztin und Psychiaterin 1987 die Abteilung. Sie wusste: Psychisch kranke gehörlose Menschen brauchen Fachkräfte, die ihre Sprache sprechen. Ein Gebärden-Dolmetscher zwischen Patient und Therapeut bleibt immer nur die zweitbeste Lösung. Vertrauen, die Grundlage jeder Therapie, entsteht nur schwer über Dritte.
1988 nahm die Abteilung als damals einzigartiges Modellprojekt in Deutschland den Betrieb auf. Dr. Richter leitete sie fast 30 Jahre lang, baute ein multiprofessionelles Team auf, stellte gehörlose Fachkräfte ein, schuf ambulante Nachsorgeangebote und knüpfte ein Netzwerk mit Einrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Als sie 2015 in den Ruhestand ging, war aus dem mutigen Anfang eine Vorzeigeeinrichtung geworden, die 2018
ihr 30-jähriges Bestehen feierte.
Therapie ohne Umwege
Seit ihrer Gründung hat sich die Abteilung für hörgeschädigte Menschen weiterentwickelt. Was einst als spezialisierte Station für gehörlose Patientinnen und Patienten begann, ist heute ein überregional anerkanntes Zentrum für Menschen mit ganz unterschiedlichen Formen von Hörbehinderung. Ob gehörlos, schwerhörig, spät ertaubt, mit Hörprothese oder zusätzlicher Sehbeeinträchtigung – in Erlangen erhalten sie psychiatrische und psychosomatische Hilfe, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Auch bei Suchterkrankungen ist die Abteilung mittlerweile eine wichtige Anlaufstelle. Das Angebot reicht von ambulanter Beratung bis zur vollstationären Behandlung.
Zentraler Bestandteil der Behandlung ist eine barrierefreie Kommunikation, ohne Hürden, ohne Umwege. Viele Betroffene berichten, dass sie sich in anderen Einrichtungen nicht wirklich eingebunden fühlten – Dolmetschende oder schriftliche Notlösungen führten zu Missverständnissen. In Erlangen ist das anders. Alle Fachkräfte sind im Umgang mit hörgeschädigten und hörsehbehinderten Menschen geschult, viele beherrschen die Gebärdensprache. Dadurch entsteht eine Gesprächssituation auf Augenhöhe – die oft zum ersten Mal ermöglicht, dass Therapie wirklich gelingen kann.
In Deutschland gibt es nur zwei psychiatrische Fachstationen, die konsequent in Gebärdensprache therapieren – eine davon steht in Erlangen, die einzige im süddeutschen Raum. Ihr guter Ruf reicht weit: Auch aus Österreich und Südtirol kommen regelmäßig Patientinnen und Patienten, um hier psychiatrische Unterstützung zu erhalten.
Vertrauen braucht Kontinuität
Ein besonderer Vorteil der Abteilung ist die integrierte Versorgung: Alles liegt in einer Hand – vom ersten ambulanten Gespräch über die stationäre Behandlung bis zur Nachsorge. Die Ansprechpersonen bleiben dieselben. Was nach einem organisatorischen Detail klingt, ist für Menschen mit Hörschädigung von großer Bedeutung. Denn Verständigung über Gebärdensprache, Mimik und Gestik lebt von Vertrauen und Beziehung. Ein Wechsel kann dieses Vertrauensverhältnis stören – und den Therapieverlauf empfindlich beeinträchtigen.
Deshalb legt das behandelnde Team großen Wert auf Kontinuität. Über die Zeit entsteht eine verlässliche therapeutische Bindung. Schon während des Aufenthalts wird gemeinsam geplant, wie es danach weitergeht – im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, im Kontakt mit Behörden oder im sozialen Netz.
Manche Patientinnen und Patienten bleiben der Abteilung über viele Jahre hinweg verbunden, etwa bei Krisen, neuen Herausforderungen oder in schwierigen Lebensphasen. In Einzelfällen entsteht daraus eine kontinuierliche therapeutische Begleitung, die sich über Jahrzehnte erstrecken kann. Solche gewachsenen Beziehungen zeigen, dass gute psychiatrische Versorgung mehr ist als Therapie – sie ist ein verlässlicher Ort im Leben.