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BLICK IN DIE ZUKUNFT

Chancen und Herausforderungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Chefärztin Dr. Kathrin Herrmann über flexible Versorgungsstrukturen und Modellprojekte

Psychische Belastungen und Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen seit Jahren zu. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung verschärft, doch die Ursachen liegen tiefer: Soziale Isolation, übermäßiger Medienkonsum, Mobbing, Kriege, Krisen und wirtschaftliche Unsicherheit führen immer häufiger zu Ängsten, Depressionen, Essstörungen oder selbstverletzendem Verhalten.

Modellprojekte mit flexiblen Versorgungswegen, wie sie in einigen Bundesländern bereits erprobt werden, könnten auch in Mittelfranken dazu beitragen, betroffene Kinder und Jugendliche flexibler und gezielter zu unterstützen.

Engpässe in der psychiatrischen Versorgung

Die Nachfrage nach kinder- und jugendpsychiatrischer Hilfe ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Doch das Angebot hält nicht Schritt: Viele Familien warten oft wochen- oder monatelang auf einen Termin beim ambulanten Kinder- und Jugendpsychiater oder auf einen Behandlungsplatz.

Auch im stationären Bereich spitzt sich die Lage zu: Junge Patientinnen und Patienten kommen häufig mit eskalierten Störungsbildern und komplexen Problemlagen, die neben der klinischen Behandlung zusätzliche Unterstützung durch Jugendhilfe, Schule oder andere Stellen erfordern. Doch die Kliniken stoßen an strukturelle Grenzen: Fachkräftemangel, finanzielle Engpässe und starre gesetzliche Vorgaben erschweren schnelle und nachhaltige Hilfe.

Anhaltend hohe Belastung

Die steigende Nachfrage nach kinder- und jugendpsychiatrischer Hilfe ist Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung – das belegt die COPSY-Studie, die seit 2020 die Auswirkungen der Corona-Pandemie und anderer globaler Krisen auf die psychische Gesundheit junger Menschen untersucht. Die aktuelle Erhebungswelle von 2024 zeigt: Auch Jahre nach der Pandemie hat sich die psychische Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher nicht vollständig erholt. 22 Prozent zeigen psychische Auffälligkeiten, 21 Prozent berichten von verminderter Lebensqualität. Zwar lagen die Werte während der Pandemie – insbesondere im zweiten Lockdown – noch deutlich höher, doch auch heute übersteigen sie das Vorkrisenniveau weiterhin um rund fünf Prozent. Der größte Druck geht inzwischen von globalen Krisen aus: 72 Prozent der jungen Menschen sorgen sich wegen Kriegen und Terror, 62 Prozent wegen wirtschaftlicher Unsicherheit und 57 Prozent aufgrund der Klimaerwärmung. Dagegen spielt die Corona-Pandemie inzwischen eine nachgeordnete Rolle – aktuell empfinden sie nur noch 15 Prozent als belastend.

Darüber hinaus beeinträchtigen soziale Medien das psychische Wohlbefinden: Ein Drittel der Befragten wird dort regelmäßig mit verstörenden Inhalten konfrontiert, ein Fünftel erlebt Ausgrenzung oder Abwertung. Besonders gefährdet sind junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien – vor allem, wenn beengte Wohnverhältnisse, geringe Bildungsressourcen und elterliche Belastungen zusammentreffen. Gleichzeitig zeigt die COPSY-Studie aber auch Schutzfaktoren auf: Ein stabiles soziales Umfeld, emotionale Unterstützung und eine zuversichtliche Haltung wirken vorbeugend gegen psychische Krisen.

Frühe Hilfe durch Vernetzung

Um psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen wirksam zu bekämpfen, braucht es ein Hilfesystem, das früh ansetzt, leicht zugänglich ist und verschiedene Angebote vernetzt. Junge Menschen sollen psychisch gesund aufwachsen – das muss ein gemeinsames Ziel der Gesellschaft sein. Prävention spielt dabei eine Schlüsselrolle: Schon in Kindergärten und Schulen sollte psychische Gesundheit selbstverständlich thematisiert werden. Angebote im direkten Lebensumfeld der Familien und frühe Interventionen können helfen, Belastungen rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern, bevor sich Störungen verfestigen.

Auch ambulante Angebote müssen schnell und unkompliziert erreichbar sein. Und sobald ein Problem erkannt wird, sollte die passende Unterstützung bereitstehen – sei es durch Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Jugendhilfe, schulpsychologische Dienste oder Familienberatungsstellen. Dafür müssen alle Beteiligten eng zusammenarbeiten, auch über organisatorische und rechtliche Grenzen hinweg. Tageskliniken spielen ebenso eine zentrale Rolle: Sie ermöglichen intensive Behandlungen, ohne das soziale Umfeld vollständig zu verlassen, und beziehen den Familienalltag direkt in die Therapie ein. So lassen sich Probleme praxisnah lösen und Fortschritte im gewohnten Umfeld erproben. Um dieses Angebot in der Region Mittelfranken zu stärken, errichten die Bezirkskliniken in Neustadt an der Aisch bis 2027 einen Neubau für eine Tagesklinik, in den auch die bestehende Psychiatrische Institutsambulanz einzieht. Das verbessert die wohnortnahe Versorgung und entlastet die stationären Strukturen.

Von starren Vorgaben zu passgenauer Hilfe

Angesichts des Fachkräftemangels und der veränderten Lebensrealitäten von Familien braucht es flexible, zeitgemäße Versorgungskonzepte. Modellprojekte nach §64b SGBV, wie sie in mehreren Bundesländern erfolgreich laufen, bieten hier einen vielversprechenden Ansatz. Sie arbeiten mit Globalbudgets statt starrer Einzelleistungsvergütung und lösen die Trennung zwischen stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten auf.

Das ermöglicht eine passgenaue, sektorenübergreifende Behandlung: individuell, flexibel, familiennah mit stabilen und gleichbleibenden Behandlungsteams – genau so, wie es die Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen erfordert. Diese Modelle können helfen, die Versorgungsqualität zu verbessern und Fachkräfte zu entlasten.

Auch für den Bezirk Mittelfranken wäre ein solches Modell ein wichtiger Schritt in Richtung moderner Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dafür braucht es den Mut, bestehende Strukturen zu hinterfragen – und die Bereitschaft von Politik und Krankenkassen, gemeinsam neue Wege zu gehen.